«Guten Tag meine sehr verehrten Damen und Herren, mein Name ist Stephan Meyer und ich bin heute ihr Flugkapitän. Ich und die ganze Kabinenbesatzung heissen sie herzlich willkommen zu unserem heutigen Flug Richtung Berufsmaturität.»
Ich steige in das bereitstehende Flugzeug, welches am Flughafen gerade vollgetankt wird. Am Eingang steht die Kabinencrew, lächelnd und winkend. Ich betrete den Mittelgang und suche schlendernd die Sitznummern ab. Es sollte Reihe 18, Platz C sein, links vom Gang. Es ist stickig und warm in der Maschine, schon nach fünf Minuten klebt mir das Hemd an der Brust. Das Linienflugzeug ist modern und eher kalt, die Sitze sind alt und quietschen. Ich sehe allerhand Leute, wenn ich mich so in der Maschine umschaue: ältere Leute, Familien, junge Verliebte und ein ganzer Haufen von frischgebackenen Ausgelernten auf Abschlussreise. Ich sichte endlich meine Bleibe für die nächsten paar Flugstunden und lasse mich mit einem tiefen Seufzer in den Sitz fallen.
«Ich darf Ihnen Frau Doktor Carmen Frehner vorstellen, die heute an meiner Seite als Co-Kapitän im Cockpit sitzen wird. Die Flugbegleitung steht unter der Leitung von Frau Roggo, die sich mit ihrem fachkundigen Team während der Reise engagiert um Recht und Ordnung, um ein gesteigertes Mass an Allgemeinwissen sowie um ihr persönliches Wohl sorgen wird.»
Flackernd geht die Bordbeleuchtung an, einige Flugbegleiter und Flugbegleiterinnen betreten den Passagierbereich. Zu meiner Linken hat sich eine Frau mittleren Alters platziert, gleich daneben ein kleines Mädchen. Ihre Tochter, wie ich annehme. Auch sie scheint unter der drückenden Luft zu leiden. Was wären wir doch froh gewesen, hätten wir uns in den vergangenen Wochen draussen über solche Bedingungen beklagen dürfen. Es bleibt uns bloss zu hoffen, dass der Schweizer Sommer dieses Jahr wenigstens auf ein Wochenende fallen wird.
«Es ist 13:42 Uhr und wir messen aktuell eine Aussentemperatur von 19°C. Auf unserer vierjährigen Reisestrecke zur Berufsmaturität erwarten wir am Ende des zweiten und natürlich während des vierten Jahres aufgrund aeronautischer Prüfungsbedingungen zeitweise Stresssituationen. Auch ansonsten werden vermutlich in un- und regelmässigen Abständen kleinere Turbulenzen auftreten, was einige Ausweichmanöver mit sich bringen wird. Sie dürfen aber beruhigt sein, denn zwischen diesen emotionalen Drucklöchern rechnen wir grösstenteils mit optimalen Flugbedingungen.»
Das Mädchen in meiner Reihe macht lautstark ihren Blähungen Platz. Grossartig. Bevor die postaudialen Geruchswellen meine Nase erreichen, schliesse ich die Augen und lasse die Gedanken wandern.
Vier lange Jahre gehörte der Besuch der BMZ zum wöchentlichen Programm. Es waren vier intensive Jahre. Vier Jahre des Lernens und des Lehrens, des Gebens und des Nehmens. Vier Jahre des Packens und des Fassens, des Lebens und Lebenlassens. Und nun? Nun ist Schluss damit. Ich versetze mich in die ersten Momente dieser Zeit, alles war so gross und neu: neue Schulkameraden, neue Lehrpersonen, neue Räume, ein völlig neues Leben. Ich sehe Leute vor mir, die mir auf Anhieb sympathisch sind. Andere sind mir suspekt, wieder andere machen mich neugierig. Hätte ich damals gedacht, dass ich vier Jahr später mit dieser Meute im selben Flugzeug sitzen würde? Definitiv nicht. Ich rieche Bohnensuppe mit Zwiebeln von links. Das Mädchen grinst.
«Alle Maschinen okay, zehn Minuten bis zum Start. Von der gefühlt Lichtjahre nahen Reisedestination trennen uns ca. 2'300 Stunden Flug mit einigen Höhen und Tiefen.» Perfekt, ich weiss die benötigte Zeit t zum Ziel und die Horizontaldistanz s. Das Hirn beginnt zu arbeiten:
Betrachten Sie die Flugbahn des Flugzeugs annährend als Parabel und bestimmen sie die maximale Flughöhe h, wenn der ausgeschenkte Orangensaft auf 1'000m über Meer 2 Grad Celsius warm ist und zwei der Flugbegleiter Heyer und Oletic heissen.
Tatsächlich kamen mir einige der Mathematikaufgaben so oder ähnlich vor, die ich im Laufe der letzten Jahre zu lösen hatte. Ich kenne mich aus mit orthogonalen Normalvektoren, kann trigonometrische Gleichungen lösen, habe die Gesetze von Logarithmus und Exponentialgleichungen im Griff und bin im Stande, präzise Angaben über die Asymptoten einer x-beliebigen Funktionskurve zu liefern. Zweifelsohne spannende Herausforderungen, die uns viel für das spätere Berufs- und Privatleben mitgeben. Trotzdem tue ich mich schwer damit, in einer Bar ein schönes Mädchen anzusprechen. Ist das Leben nicht unfair?
«Verehrte Gäste, wir bitten Sie nun, Ihre Sicherheitsgurte anzulegen und sich bis nach dem Start nicht mehr von ihren Sitzen zu erheben. Stellen sie sicher, dass sämtliche elektronischen Geräte während der Lektionen ausgeschaltet und die Taschen mit Essen und Getränken unter den Sitzen verstaut sind.»
Es gibt einen Ruck und die Maschine beginnt, langsam rückwärts zu rollen. «In wenigen Augenblicken werden wir die Triebwerke unseres Airbus 320 anlassen und das Startprozedere einleiten. Die gesamte BMZ-Besatzung wünscht Ihnen nun einen angenehmen, energiegeladenen Abflug auf Maturawolke Sieben.»
Man kann in den paar Minuten, bis ein Flugzeug startet, bereits sehen, dass wir uns ein enormes Allgemeinwissen angeeignet haben. Trotzdem treffen wir nach wie vor jeden einzelnen Tag auf Situationen, auf die wir weder Vokabeln büffeln noch Lehrbuchtheorie lernen können. Wie viele Male haben wir uns bereits gefragt, wo um alles in der Welt uns der Schulstoff später einmal nützlich sein soll? Unzählbar. Tatsächlich ist es schwierig zu sagen, wie viel vom erwähnten Schulwissen ich in meinem späteren Leben effektiv brauchen werde. Mit grosser Wahrscheinlichkeit wird es ein Bruchteil sein. Es wäre allerdings ein fataler Irrtum, diese Behauptung als Quintessenz dieser vier Jahre BMS zu betrachten. Diese Zeit hat mich nämlich vor allem eines gelehrt: Nichts ist unmöglich. Mit einem Frachtraum voll Wissen und Erfahrungen steht jeder von uns an seiner eigenen Startbahn und macht sich klar zum Abflug. Gas geben, steuern oder die Flughöhe halten kann man im Simulator üben. Das Gefühl des Durchstartens ist allerdings etwas, das man nirgends lernen kann. Man muss es erleben.
Das absolut Wichtigste ist, den Kurs nicht auf die Erwartungen anderer zu setzen. Das Ziel soll die persönlich gehegte Hoffnung, der ganz eigene Traum sein. Selbstverständlich braucht es Mut, Ausdauer und viel Schweiss, um das vermeintlich Unmögliche zu schaffen, um seine ganz persönliche Traumdestination erfolgreich anzufliegen. Mit der Berufsmaturität haben wir uns aber optimale Startbedingungen für einen solchen Flug geschaffen. Ich bin stolz auf euch, alle ihr Absolventinnen und Absolventen. Das Leben wird uns immer wieder Steine in den Weg legen. Nun liegt es an uns, mit diesen Steinen eine glänzende Zukunft zu bauen. Wir tun Dinge nicht, weil sie unmöglich sind. Sie sind unmöglich, weil wir sie nicht wagen. Also los – wagen wir sie.
Ein letztes Mal knistern die Lautsprecher: «Ladies and Gentlemen – we are ready for take off.»