Für unsere Studienreise hatten wir uns ein konzentriertes Programm vorgenommen, das sich vorwiegend um ein einziges Werk drehte: Wir hatten vor, dem Jahrhundertereignis der Restaurierung des Genter Altares nicht nur zuzuschauen, sondern die Umstände seiner Entstehung und seine Geschichte zu verstehen und das Handwerk der Restauratoren kennenzulernen.
Die Anreise über Köln bot uns ein erstes schaurige Kunstspektakel: In der Goldenen Kammer von St. Ursula, die abseits des Domes liegt und für uns frühzeitig geöffnet wurde, besichtigten wir das grösste Mosaik aus Menschenknochen und erhielten sogar die Erlaubnis, einen Blick in die Schatzkammer zu werfen, wo sich Textilien und Goldschmiedearbeiten befinden, die in direktem Zusammenhang mit unserem Thema standen.
Am Nachmittag reisten wir weiter und bezogen in Gent unser Hostel. Tags darauf ging es los mit einem ersten Augenschein des Genter Altares, dessen ikonografische Besonderheiten wir ausgiebig vor einer Replik diskutierten. Die Lernenden trugen ihre Kenntnisse aus den Unterrichtsstunden spielend zusammen und stiessen interessante Diskussionspunkte an. Danach betraten wir voller Spannung die Villa-Kapelle, in der das Original steht und in der alle Besucher/innen zu andächtiger Schweigsamkeit angehalten werden. Uns drängte sich jedoch so viel Gesprächsstoff auf, dass wir auch hier unerlaubterweise ins Schwatzen verfielen. Dies brachte uns mehrfach lautstarke Ermahnungen zur Ruhe ein – ein altbekannter Schulklassiker, der bei den Ehemaligen nostalgische Gefühle weckte.
Am Nachmittag nahmen wir uns Zeit für ein Intensivstudium, das seinen Namen verdiente. Wir bezogen einen Schulungsraum in einem Hotel und richteten dort unser Klassenzimmer mit Beamer und Labtop ein. Das Thema des ersten Teils des Vortrages war der technischen Erforschung und den Erkenntnissen der bereits seit sechs Jahren andauernden Restaurierungsarbeit gewidmet. Der zweite Teil drehte sich um die burgundische Hofkultur des 15. Jahrhunderts und ihre herausragenden Maler.
Erstaunt nahm die Lehrerin zur Kenntnis, dass der Wissensdurst der BM-Lernenden nur mit grossen Fässern gestillt werden kann, und so verbrachten wir knappe vier Stunden in konzentrierter Aufmerksamkeit, klärten Fragen, diskutierten und bereiteten uns auf den kommenden Tag und die Begegnung mit den Restaurator/innen bei der Arbeit im Museum vor. Hier bekamen wir von einem erfahrenen Kunsthistoriker zusätzliche Informationen zum Stand der gegenwärtigen Restaurierungsarbeiten und konnten der langwierigen Tätigkeit der Restauratoren in einem abgeschirmten Glasatelier zusehen.
Jene, die bis in den späten Nachmittag im Museum verweilten, wurden mit einem Zufallsereignis belohnt: Ein Team von Expert/innen besuchte die Restaurator/innen. Dazu wurden alle Tafeln im aktuellen Bearbeitungszustand direkt vor uns aufgestellt. Wir konnten so die grossen Unterschiede von gereinigten und ungereinigten Passagen der Tafeln unmittelbar sehen. Die Farbigkeit des Urzustandes der von Firnis befreiten Tafeln bot einen tiefen Einblick in die Malerei des 15. Jahrhunderts, ein Eindruck, der nur wenigen vergönnt ist und der schon in wenigen Tagen nie mehr sichtbar sein wird.
Uns war es sogar möglich, die brandaktuelle Diskussion um bestimmte Problemfelder der Paradiestafel, von denen wir im Rahmen unserer Reise bereits erfuhren, optisch zu verfolgen. Die spannende Frage, was dabei entschieden wurde, werden wir im Jahr 2020 erfahren, wenn die Kampagne abgeschlossen ist.
Ein Bummel zu weiteren musealen Highlights liessen wir uns nicht nehmen. Die Installation des Schweizer Künstlerpaares Steiner/Lenzlinger schenkte uns etwas Zeit zur Erholung mit Blick in ihre verzauberte Kunsttraumwelt. Patrick van Caeckenberghs fantastische Skulpturen waren eine amüsante Neuentdeckung!
Am folgenden Tag versammelten wir uns morgens, um mit dem Zug nach Brügge zu reisen. Die Stadt gleicht einer Zeitmaschine, die uns zurück ins 15. Jahrhundert katapultierte. Sie war der Lebens- und Wirkungsort des Malergenies Jan van Eyck, einem der Urheber des Genter Altares. Hier wollten wir uns weitere seiner Bilder ansehen und die tiefgreifende Symbolik seiner Werke ausloten, die in engem Zusammenhang mit komplexen, mystischen Vorstellungen der Zeit stehen. Wir nahmen uns in Ruhe Zeit, diese zu entschlüsseln, und wurden, was selten möglich ist, nicht durch grossen Publikumszulauf davon abgehalten.
Im altehrwürdigen Gemäuer des Sint-Jans-Hospitaals besichtigten wir Schlüsselwerke eines zweiten flämischen Meisters, Hans Memling, und rekapitulierten unsere Unterrichtserfahrungen, Gedanken und Fragen. Der Faden der Diskussion schien nie abzubrechen und unsere Gruppe von insgesamt 30 Teilnehmenden blieb bis zum letzten Veranstaltungspunkt des freiwilligen Programmes ungetrennt zusammen. So verbrachten wir miteinander eine höchst intensive, anregende, beglückende und von geballter Energie getragene Reise, bei der alle auf derselben «Welle» surften – es war eine jener BMS-Sternstunden, die allen unvergessen bleiben wird!